„Die Oberfläche hat auch eine Tiefe“

EWA BLAUTH: Herr von Boehm, warum beschäftigen sich Deutsche jetzt so intensiv mit der Frage, was ist „deutsch“?

GERO von BOEHM: Weil es das lange nicht gegeben hat, weil man es nicht durfte, weil man es nicht wollte. Denn der Geschichtsfelsen des Nationalsozialismus war immer davor, und man hat sich nicht so gern mit dem Deutschen beschäftigt. Allein dieses Wort ist schon irgendwie...

Verdächtig?

Nicht verdächtig, aber es ist bei uns weniger vorgekommen als bei Franzosen oder Engländern, die überhaupt kein Problem damit haben, sich unablässig mit sich selbst zu beschäftigen. Für uns Deutsche ist Distanz zu uns selbst, Distanz zu unserer Geschichte, nicht schlecht. Ich selbst wollte eine andere Sichtweise auf mein Land  und habe - unter anderem deshalb - 10 Jahre mit meiner Familie in Paris gelebt. Von Jahr zu Jahr wurde mein Deutschland-Bild positiver. Ich fand plötzlich all das, was mich vorher genervt hatte, - den Ordnungssinn, das Denken in Schubkästen, die mangelnde Ironie -, das fand ich alles gar nicht mehr so schlimm. Ich fand es eher sogar sympathisch zum Teil. Das hat mich dann dazu gebracht, zu überlegen, wie könnte man so eine Sicht von außen im Fernsehen zeigen. Irgendwann standen wir vor der Frage, wer könnte das machen. Da Christopher Clark nicht nur ein großer Deutschland-Experte unter den britischen Historikern ist, der einen Bestseller über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschrieben hat: „Die Schlafwandler“, dann ergab sich das ganz schnell. Er spricht exzellent Deutsch und hat eine liebevoll-kritische Sichtweise auf unser Land. Und weil er sehr musikalisch ist, wird er für diese Reihe auch mit dem Thomanerchor in Leipzig singen.

Er hat tolle Entertainer-Qualitäten.

Ja, durchaus. Natürlich macht es ihm Spaß, zu unterhalten. Das ist sehr britisch wiederum, obwohl er ja Australier ist. Das ist in Großbritannien an der Tagesordnung. Er ist ein akademischer Lehrer, bekommt einen Preis nach dem anderen, ist gerade von Her Majesty persönlich zum Regius Professor ernannt worden. Aber das alles hindert ihn nicht, unterhaltsam zu sein. So etwas würde man sich bei deutschen Professoren durchaus wünschen.

Von wem kommen die Titel der Folgen?

Die kommen von uns gemeinsam, von mir und der Redaktion. Und auch die gewisse Ordnung, der Versuch diese doch teilweise auch komplizierte deutsche Geschichte mal anders zu erzählen. Bloß keine Chronologie, das wäre langweilig.

Das wäre der Unterschied zu der Reihe „Die Deutschen“?

Ja, das ist vielleicht der Unterschied. Wir teilen es thematisch auf. Das erscheint uns besser, weil es eben lauter spannende Themen gibt. Woher wir kommen, wer weiß das schon? Dass wir uns, wie kein anderes Volk in Europa aus so vielen anderen fremden Völkern zusammensetzen. „Die Germanen“ war ein Begriff, den Cäsar  erfunden hat. Und der im Grunde gar nichts sagt. „Die Germanen“ waren eine Zusammenfassung vieler total unterschiedlicher Stämme. Von den Langobarden bis zu den Ubuer, unterschiedlicher kann es gar nicht sein. Die hatten nichts miteinander zu tun. Es hat ja dann noch einmal weit über 1000 Jahre gedauert, bis es wirklich Deutschland gab.

Die einzelnen Folgen heißen z. B.: „Wovon wir schwärmen?“, „Wonach wir suchen?“, „Was uns antreibt?“, „Wer wir sind?“. Sind es auch die Fragen, die Sie persönlich beschäftigen? Als Mensch, als Deutscher?

Ja, als Mensch, als Deutscher, der sehr viel im Ausland ist oder auch da gelebt hat. Ja, das sind genau die Fragen. Darauf gibt es Antworten und die sind höchst spannend. Wussten Sie, dass es in Deutschland 1200 Wurstsorten gibt und in Frankreich nur 400 Käsesorten? Oder dass die Pickelhaube eigentlich eine russische Erfindung ist, die der deutsche Kaiser bei seinem Vetter, dem russischen Zaren entdeckt hat?

Später wurden wir dann damit identifiziert und die Pickelhaube wurde zum Symbol für unsere ziemlich übertriebene Ordnung. So etwas erzählen wir, oder etwa die Ursprünge unserer Liebe zur Natur. Aber eine Folge widmet sich auch dem Weg der Deutschen zu einer Nation.

Sie bewegen sich zwischen dem Dokumentarischen und dem Szenischen. Inszenieren Sie selber auch die Spielszenen?

Ja, natürlich. Ja, ja, klar. Da, wo das Dokumentarische nicht ausreicht, wo man das Gefühl hat, man muss das jetzt mal zeigen, wie die Brüder Grimm sich von einer Dorothea Viehmann französische Märchen erzählen lassen und immer eifrig mitschreiben, dann inszeniere ich das, dann will ich das auch sehen. Oder Heines Exil in Paris oder Mark Twains Besuch bei Kaiser Wilhelm, dem er ein paar Zigarren klaut.

Macht es Ihnen Spaß, zu inszenieren?

Ja, natürlich, weil es wunderbar ist, mit Schauspielern zu arbeiten. Das tue ich als Produzent auch, aber anders. Oder ein Heinrich Heine, wie war der tatsächlich? Und wenn man viel Heine gelesen hat, sich mit ihm beschäftigt hat, dann glaubt man, zu ahnen, wie er gewesen sein könnte, und danach castet man dann auch. Wir haben einen tollen Darsteller gefunden für den Heine. Goethe suchen wir noch.

Brauchen wir in der heutigen Welt so etwas wie „nationale Identität“?

Nicht unbedingt nationale Identität. Identität ist etwas anderes. Identität macht man sich selber. Und ich glaube, was wir dringend brauchen, ist nicht eine nationale Identität, sondern eine europäische. Das ist heute unsere Welt. Wenn Sie sich die „Deutschland-Saga“ anschauen, werden Sie schnell feststellen, dass es eigentlich auch eine „Europa-Saga“ ist. Das Ganze ist eine europäische Story eigentlich.

Hat Patriotismus ausgespielt?

Gesunder Patriotismus kann nicht schaden, wenn das andere wichtiger bleibt. Wenn die europäische Identität immer mitschwingt, dann ist Patriotismus doch völlig O.K. Ich kann doch mein Land lieben. Aber ich persönlich bin wohl kein Patriot, das gebe ich ehrlich zu. Ich fühle mich wirklich als Europäer. Ich finde die europäische Identität viel interessanter, es entspricht uns Deutschen auch mehr.

Warum?

Weil wir uns eben aus so vielen verschiedenen Wurzeln zusammensetzen. Diese Vielfalt, die sich in Deutschland heute noch in Regionen, Mentalitäten, Dialekten zeigt, beeindruckt übrigens auch Christopher Clark immer wieder, wenn wir zusammen reisen. 

Sie studieren gerne Menschen?

Das stimmt, ja.

Und Bücher?

Ja, mindestens so wie Menschen. Ich bin ein großer Leser vor dem Herrn.

Das eine ist eher französisch, das andere eher deutsch. Sind Sie eine gute Mischung von beiden?

Ich hoffe. In Frankreich lernt man mehr sich für Menschen zu interessieren, weil da eine andere Art der Kommunikation herrscht, in Deutschland sind es vielleicht mehr die Bücher. Wenn man das eine auf das andere überträgt, das ist eigentlich ganz schön. Die Mischung macht’s.

Die Mischung aus verschiedenen Identitäten?

Ja. Ich glaube ohnehin, dass Menschen nicht unbedingt ständig nach irgendeiner Identität suchen sollen. Man kann Identitäten auch wechseln.

Ja?! Wie denn?

Je nach der Zeit, je nachdem, mit wem man zu tun hat, wo man ist. Man muss nicht eine feste Identität haben. Man muss offen sein, glaube ich.

Was wäre das Konstante dann?

Das ist ein gewisser Kern, das sind die Maßstäbe, die man sich im Lauf der Jahre erworben hat. Und mit diesem Kern, mit diesen Maßstäben, die man in sich trägt, kann man durchaus auch mal die Identität wechseln. Ich versetze mich auch gerne in andere Menschen hinein in meinen Interviews und auch in andere Mentalitäten. Ich verschmelze mit Italien, wenn ich da bin. Ich fühle mich plötzlich als Italiener. Ich glaube, sie zu verstehen. In Frankreich ähnlich. In England nicht so, da ist es mir zu kalt und ich mag lieber Wein als Bier.

Welche Epoche oder historische Persönlichkeit ist Ihnen am nächsten, am liebsten?

Alexander von Humboldt, weil der irgendwie ziemlich deutsch war mit seinem Forscherdrang und gleichzeitig sehr international. Er hat die weitesten Reisen unternommen, wollte alles über die Welt wissen, aber er wollte auch nicht immer in die Tiefe gehen, was ich sehr sympathisch finde. Er hat andere Sprachen gelernt, hat sich für andere Völker, völlig exotische Dinge interessiert, der war mutig. Er hat am eigenen Leib alles Mögliche ausprobiert. Der kannte keine Grenzen. Er ist mit einem Zylinder auf den Chimborazo gestiegen. So was finde ich toll! Ich würde mit Warhol über mich sagen: „I am a deeply superficial person!“. Die Oberfläche hat auch eine Tiefe.

Eine der Folgen heißt: „Wovon träumen wir?“ Wovon träumen Sie?

Ich träume davon, dass es immer ein Fernsehen geben wird, das Dinge ermöglicht, die ich machen will, die aus dem üblichen Rahmen herausfallen und anders sind.

Es ist ja nicht selbstverständlich, dass ein Sender sechs prominente Plätze zu Verfügung stellt für ein völlig neues Format. Wo ein Mensch aus Australien, der zwar ein berühmter Geschichtsprofessor ist, aber uns mit Akzent durch unser eigenes Land führt, in einem roten VW Käfer Baujahr 1971. Das ist schon ungewöhnlich – und mutig vom ZDF. Aber es hat sich gelohnt. Die Reihe erreicht mit jeder einzelnen Folge bis zu 5 Millionen Menschen. Und ich hoffe, dass so etwas immer weiter möglich sein wird.

Herzlichen Dank für das Gespräch und Ihre Offenheit.

Interview: Ewa Blauth